Judith Borowski ist seit 17 Jahren Marken-Geschäftsführerin von NOMOS Glashütte. Unter ihr wurde die Uhrenmanufaktur bekannt als Unternehmen, das Haltung beweist – etwa in Fragen von Radikalismus und Intoleranz. Warum politischen Debatte ins Büro gehören, erklärte sie im Handelsblatt.
Rettungsschirme, Kurzarbeit oder Maskenpflicht: Nicht nur Coronazeiten bieten politischen Gesprächs- und Zündstoff; Politik ist immer und überall und durchaus auch in den Teeküchen unserer Unternehmen. Und damit stellt sich die Frage: Wollen wir das – im Büro? Na klar wollen wir das.
In einer aktuellen Studie von YouGov Deutschland wurden über 1000 Berufstätige befragt. Ergebnis: Nur 30 Prozent der Angestellten in Deutschland sprechen in Büro und Werkhalle über Politik, 44 Prozent der Berufstätigen in Deutschland empfinden es aber als „unangebracht“. Bei Letzteren ist die Tendenz steigend; jeder zweite Beschäftigte gibt an, in dieser Hinsicht in den vergangenen fünf Jahren deutlich zurückhaltender geworden zu sein.
Das könnte im Sinne von Führungskräften und Unternehmern sein. Denn was ist schon gewonnen, wenn Frau Müller künftig nicht mehr mit Herrn Meyer spricht, weil sie nicht gut findet, wo dieser sein Kreuzchen macht? Sollten Mitarbeiter nicht besser über Excel-Tabellen, Formeln, Verhandlungen sprechen?
Nein, nicht nur. Denn wir alle – auch Unternehmen und Unternehmer, auch Mitarbeiter – sollten uns einmischen. Gern unparteiisch im Hinblick auf Rot, Grün, Schwarz oder Gelb, aber doch parteiisch, wenn es um unsere Freiheit, um Demokratie, Verteilung und viele Sachfragen geht: Woher kommt das Fleisch in der Kantine, wie geht gute Dienstreisepolitik, wie steht es um Gleichberechtigung, Umwelt- und Sozialstandards bei Lieferanten oder auch die Weitergabe der Mehrwertsteuersenkung? Wie es der Wirtschaft geht, hängt nicht zuletzt ab von den Rahmenbedingungen, die von der Politik gesetzt werden – in Berlin wie landespolitisch oder im Ortschaftsrat.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Was Mitarbeiter wählen, geht uns nichts an. Doch dass Mitarbeiter politisch denken und agieren, sollte Chefinnen und Chefs glücklich machen. Denn Menschen, die kritisch mitdenken, mitmachen, sind bessere, modernere, motiviertere Mitarbeiter. In Ostdeutschland, wo unser Unternehmen arbeitet, gilt dies allemal: Zwar ist das Politische im Unternehmen im Erzgebirge anders konnotiert als etwa in der Lüneburger Heide; es ist heikler, es gibt zahlreiche einst in der DDR gelegte Tretminen. Doch wer die Erfahrung aus unterschiedlichen Systemen mitbringt oder diese vermittelt bekommen hat, zu Hause am Küchentisch, weiß Freiheit und Möglichkeiten eben oft auch mehr zu schätzen.
Vorteil von mehr Lebenserfahrung
Es gibt in Ostdeutschland also mehr als dumpfes AfD-Geheul, es gibt auch den eindeutigen Vorteil von mehr Lebenserfahrung durch die Sozialisation in unterschiedlichen Systemen – und viele, die sich freuen, dass etwas Westen nun auch im Osten ist. Dass Freiheit, Toleranz, Verantwortung und Mitsprache seit 30 Jahren auch hier möglich sind – und Politik eben auch den Arbeitsalltag stark verändert hat.
Einen „tieferen Sinn“ in dem zu sehen, was man tut, wo man es tut, ist natürlich nicht nur den meisten Chefs und Chefinnen wichtig, sondern auch denen, die eine Etage darunter genauso hart und oft noch härter arbeiten. Zu erkennen, dass das Unternehmen, für das man tätig ist, einer Haltung folgt, ist für viele Menschen elementar. Gerade heute, da für viele Menschen Arbeit und Freizeit verschwimmen, da mancher via „Zoom“ im Homeoffice auch preisgibt, wie er in Fragen der Inneneinrichtung tickt. Wer mitwirken und -denken soll, muss sich im Unternehmen auch gedanklich einigermaßen zu Hause fühlen, am richtigen Ort. Und sich trauen, seine Gedanken auszusprechen.
Dabei ist klar: Zu viel Diskussion im Unternehmen macht langsam, Demokratie ist oft zu unhandlich für den Geschäftsalltag, geht bei Weitem nicht immer. Andererseits werden wichtige Entscheidungen durch eine Beteiligung vieler oft besser, schwarmintelligent; sie werden besser durchdacht, werden mitgetragen, sie bilden fort, haben Bestand. Kommt also vielleicht ganz undogmatisch auf das Thema an.
Für unsere Unternehmen bedeutet mehr Politik aber weder zwangsläufig lähmende Basisdemokratie in Entscheidungen noch Parteipolitik und Krach in der Kantine – sondern schlicht ein Denken im Sinne des Ganzen. Der Mitarbeiter als Zoon politikon, wie Aristoteles es nannte – das ist doch super: ein soziales, auf Gesellschaft angelegtes Wesen. Das ist eine Kulturleistung und nicht wirtschaftsfeindlich. Im Gegenteil.
Nur wenn der Grundkonsens missachtet wird, wenn Meinungsfreiheit auf Kosten etwa von Minderheiten ausgeübt wird, müssen Chefs und Chefinnen dem Einhalt gebieten. Rückgrat ist zumutbar. Sonst gilt: Dass andere anders denken, ist oft anstrengend, aber prinzipiell zu begrüßen, denn nur so entsteht Erkenntnisgewinn. Was ich selbst denke, weiß ich doch längst. Perspektiven, die es sonst noch gibt, die also aus den anderen Köpfen, könnten hingegen ein bisschen schlauer machen. Selbst Köpfe von vermeintlich mit allen Wassern gewaschenen Führungskräften.
Das Handelsblatt veröffentlichte diesen Beitrag als Gastkommentar am 18.08.2020.
VERÖFFENTLICHUNG: Oktober 2020
TEXT: Judith Borowski
BILDER: 1. NOMOS Glashütte/MERK & MARK, 2. NOMOS Glashütte/Benjakon, 3. NOMOS Glashütte, 4. NOMOS Glashütte/Hartmut Nägele